Die Frau im Winterlicht
Der Winter in Tirol hatte an diesem Tag seine ganze Strenge gezeigt. Schneekristalle tanzten im kalten Wind, als die Tür aufging und eine junge Frau mein Zimmer betrat. Sie lächelte so warm, dass selbst das Grau draußen einen Moment lang an Glanz verlor.
„Ich wollte schon so lange zu Ihnen kommen, Frau Tappeiner“, sagte sie mit heller Stimme. „In jeder Tirolerin lese ich Ihr Horoskop. Die Sterne – sie geben mir Hoffnung.“
Ihre Freude war ansteckend, doch hinter ihrer Heiterkeit spürte ich etwas anderes. Wie ein Schatten, der sich nicht vertreiben ließ. Eine leise Ahnung von Gefahr, dunkel und schwer.
Sie setzte sich mir gegenüber, voller Ungeduld und Lebenslust. „In wenigen Wochen werde ich heiraten“, erzählte sie, und ihre Augen begannen zu leuchten. „Wir träumen von einer großen Familie, von Kindern, die unser Haus füllen.“
Während sie sprach, sah ich ein Bild, das sich mir immer wieder aufdrängte: Ein Flugzeug. Hoch am Himmel. Und dann der Sturz – ein Absturz, den ich nicht aufhalten konnte. Unter den Passagieren: ihr Verlobter.
Mir zog es das Herz zusammen. Ich wollte es nicht sehen, und doch erschien es mir so klar. Ein innerer Schrei drängte, sie zu warnen. Aber gleichzeitig wusste ich: Würde ich ihr diese Vision offenbaren, sie würde zerbrechen noch bevor das Schicksal seinen Lauf nahm.
„Er fliegt nächsten Monat mit der Universität Innsbruck fort“, sagte sie beiläufig, ohne zu ahnen, was meine Bilder mir zeigten. Ein Knoten legte sich in meinen Magen. Ich zwang mich, sanft zu lächeln, und sprach von anderem: von Liebe, von Geduld, von Kindern, die eines Tages kommen würden.
Sie nickte, voller Hoffnung. Als sie schließlich ging, drehte sie sich noch einmal um, winkte mit diesem unbeschwerten Lächeln, das sie so schön machte. Erst als die Tür ins Schloss fiel, spürte ich die Tränen in meinen Augen.
Zwei Monate später geschah es. Eine Maschine der Lauda Air stürzte ab – mit Studenten der Universität Innsbruck an Bord. Niemand überlebte.
Zwei Jahre vergingen. Als die junge Frau erneut vor mir stand, erkannte ich sie sofort. Ihr Lachen war noch da, doch anders – voller Tiefe, getragen von Schmerz, aber auch von neuer Kraft.
Sie trat auf mich zu, umarmte mich fest und flüsterte:
„Danke. Danke, dass Sie mir damals nichts gesagt haben. Ich hätte es niemals verkraftet.“
In ihrem Blick lag etwas Neues, Zartes. „Ich habe eine Tochter, sechs Monate alt. Und bald werde ich heiraten. Bitte sagen Sie mir, was wichtig ist für uns.“
Ein Stein fiel von meinem Herzen. Zum ersten Mal seit jener dunklen Vision konnte ich wirklich aufatmen. Sie hatte einen Weg gefunden, durch das Leid hindurch ins Leben zurückzukehren.
Und ich wusste: Das Schweigen, so schwer es auch gewesen war, war das Richtige gewesen.
IMT