
Es war einer dieser Tage, an denen die Zeit wie klebriger Honig durch die Stunden floss.
Die Mittagspause war gerade vorbei, die Stadt lag schwer und warm unter einem
bleiernen Himmel,
und ich kehrte zurück in meine Praxis.
Im Flur stand ein Mann.
Er war kaum größer als die Garderobe hinter ihm, trug einen unscheinbaren grauen Mantel
und blickte mich an, als hätte ich ihn auf frischer Tat ertappt. In seinen Augen lag Unruhe –
und etwas, das wie Angst wirkte.
Meine Sekretärin kam mir entgegen, flüsterte hastig: „Er möchte einen Termin… aber nicht hier. Er will nicht gesehen werden.“
„Er hat keinen Termin“, sagte ich streng.
Da trat er vor.
„Ich bezahle, was Sie wollen. Aber niemand darf erfahren, dass ich hier war.“
Für einen Moment war es still. Nur die Uhr an der Wand tickte.
Ich nickte schließlich. „Kommen Sie heute Abend wieder. Dann ist niemand mehr da. Dann kann man Sie nicht sehen.“
Er atmete erleichtert auf – und verschwand.
Die Nacht senkte sich über die Stadt, als er zurückkam.
Er trug eine dunkle Sonnenbrille, als wolle er nicht nur sein Gesicht, sondern gleich seine ganze Existenz verbergen.
Er setzte sich vorsichtig, die Hände wie verkrampft ineinander gefaltet.
„Verzeihen Sie die Umstände“, murmelte er.
„Was führt Sie zu mir?“ fragte ich.
Er zögerte. Dann brach es aus ihm heraus, flüsternd, fast beschwörend:
„Ich bin der Chef von …“ – er nannte einen Namen, der Gewicht hatte –
„… und es geht um meine Existenz.“
Ich schloss kurz die Augen. Bilder flackerten vor mir auf.
„Es geht um eine Entscheidung“, sagte ich leise. „Einen Standortwechsel.“
Er starrte mich an, als hätte ich sein Tagebuch aufgeschlagen.
„Ja. Wie… wie können Sie das wissen?“
„Ihre Existenz ist nicht in Gefahr“, antwortete ich ruhig.
„Sie müssen nur entscheiden, ob Sie den Schritt ins Ausland wagen. Ich sehe, dass noch jemand diese Entscheidung mit sich trägt – und dass keiner von Ihnen wagt, darüber zu sprechen. Es hat mit Politik zu tun, nicht wahr?“
Er erstarrte.
„Ja… ich bin… auch Politiker. Und deshalb möchte ich nicht gesehen werden. Ich… bei einer Hellseherin!“
„Gestern war jemand hier, der dieselbe Frage trug“, sagte ich sanft. „Vielleicht hängt er mit Ihnen zusammen. Beide haben innerlich längst entschieden – aber keiner traut sich, es auszusprechen. Ich sehe, dass der Weg ins Ausland der richtige sein könnte. Doch beide Wege führen zum Erfolg.“
„Wer war es?“ flüsterte er. „Sagen Sie es mir!“
Ich schüttelte den Kopf. „Schweigepflicht.“
„Bitte… ich bezahle, was Sie wollen.“
„Nein. Sie würden nicht wollen, dass ich Ihr Geheimnis verrate. Und ich mache keine Ausnahmen.“
Er sackte zurück. Stille.
Ich sah, wie seine Finger zitterten.
„Sie haben all die Jahre großartige Arbeit geleistet“, sagte ich sanft.
„In Ihrer Firma, in der Politik. Es fehlt nur noch eines: der Mut, es Ihrer Frau zu sagen. Tun Sie das. Sie wird verstehen. Und sie wird an Ihrer Seite sein.“
Er sah mich lange an. Seine Stimme war nur ein Hauch:
„Wirklich?“
„Ja. Aber die Entscheidung müssen Sie gemeinsam treffen.“
Er legte die Hände auf die Tischkante, als müsse er sich an der Realität festhalten.
„Ich habe kein Wort gesagt… und Sie wissen alles. Das habe ich noch nie erlebt.“
Dann lächelte er – klein, unsicher, fast schüchtern.
„Sehr geehrte Frau Tappeiner… wie kann ich Ihnen danken?“
Ich lächelte zurück. „Mit Mut. Und mit Vertrauen in sich selbst.“
Er stand auf, setzte seine Sonnenbrille auf und ging.
Die Tür schloss sich hinter ihm.
Nur sein Duft blieb noch einen Moment in der Luft – und das leise Gefühl, dass ich soeben jemanden aus dem Schatten zurück ins Licht begleitet hatte.
Doch als ich das Licht löschte und mich zum Gehen wandte, fiel mein Blick auf den Stuhl, auf dem er gesessen hatte.
Dort lag etwas.
Ein kleines, goldenes Abzeichen — mit dem Wappen des Bundestages.
Ich nahm es behutsam auf.
Vielleicht, dachte ich, wollte er gar nicht unsichtbar sein.
Vielleicht wollte er nur… endlich gesehen werden.
IMT